Quelle: 20 Minuten Online vom 14. Oktober 2010

Mit der Strasse kamen die Postkutschen

Von Jean-Claude Gerber - Ab 2016 brausen Züge in 17 Minuten durch den Gotthard-Basistunnel. Von solch ungeheurem Tempo konnten die Passagiere der Postkutschen nur träumen.

1830 war ein bedeutendes Jahr für den Verkehr über den Gotthard. Mit dem Bau der neuen Strasse konnten erstmals Fuhrwerke durchgehend den 2106 Meter hohen Pass überqueren. Zuvor war dies nur mit Lasttieren oder zu Fuss möglich. Die ersten eingesetzten Fuhrwerke der Fahrpost waren zwei- bis dreiplätzige Einspännerkutschen, die mehrmals pro Woche Passagiere über die neue Strasse transportierten. Die kleinen Kutschen genügten damals, um das bescheidene Verkehrsaufkommen zu bewältigen. Denn während die Gotthardstrasse für grössere Passagierströme bereit gewesen wäre, hinkte die Schifffahrt auf dem Vierwaldstättersee der Entwicklung hinterher. Bis zum Start der Dampfschifffahrt 1837 wurde der Personenverkehr zwischen Luzern und Flüelen mit Segelbooten abgewickelt, die lediglich Platz für fünf Fahrgäste boten. Die zwei Mal pro Woche angebotene Überfahrt dauerte zudem zwölf Stunden. Mit den Dampfschiffen verkürzte sie sich auf drei Stunden.

Ab 1909 versuchte man den Kutschenbetrieb für Touristen zwischen Andermatt und Airolo wiederzubeleben, allerdings mit wenig Erfolg. Mit dem ersten Postautokurs 1921 war das Kutschen-Revival bereits wieder Vergangenheit. Heute bietet dieHistorische Reisepost für Nostalgiefreunde im Sommer täglich eine Postkutschenfahrt von Andermatt über den Gotthardpass nach Airolo an. (Bild: Keystone)

Einen Quantensprung machte die Gotthardpost 1842, als fünfspännige Wagen mit zehn Plätzen eingeführt wurden. Diese verkehrten bald täglich in beiden Richtungen, oft begleitet von Beiwagen und Gepäckkarren. Die Fahrt von Flüelen nach Chiasso dauerte 23 Stunden. Wegen der grossen Nachfrage wurde der Betrieb nun auch im Winter aufrecht erhalten. Statt Kutschen kamen einspännige Schlitten zum Einsatz, auf denen zwei Personen mitfahren konnten. Um den Schlittenkolonnen die Passfahrt zu ermöglichen, war eine enorme Arbeitsleistung nötig. Auf Urner und Tessiner Seite standen jeweils 100 Mann auf Abruf bereit, um die Schneemassen soweit zu räumen, damit eine Durchfahrt möglich war. Die Winterfahrt hatte dennoch ihre Gefahren. Mehr als einmal wurden Schlittenkolonnen von Lawinen begraben. Mindestens ein Kondukteur verlor dabei sein Leben.

Basel-Mailand in 50 Stunden

Die Gründung des Schweizerischen Bundesstaates 1848 brachte mit der Abschaffung von Binnenzöllen und Kantonswährungen grosse Erleichterungen für die Reisenden. Die neugegründete Eidgenössische Post machte sich zudem daran, das Angebot auszubauen. 1850 wurde die Strecke zum Bahnhof von Camerlata südlich von Como verlängert. Dort konnten die Reisenden bequem in den Zug nach Mailand umsteigen. Die Reise von Basel nach Mailand dauerte nun noch rund 50 Stunden. Ganz billig war der Spass nicht. Die Reise kostete hin und zurück gegen 70 Franken. Soviel verdiente ein Kondukteur damals in drei Monaten.

Der Kondukteur war der verantwortliche Mann auf der Kutsche. Er begleitete die gesamte Reise von Flüelen nach Camerlata. Gefahren wurde die Kutsche vom Postillion. Ihm fiel die anspruchsvolle Aufgabe zu, die Kutsche sicher über steile Strassen und durch enge Kurven zu lenken. An ihm war es auch, mit dem Posthorn die Dienstsignale zu geben. Dazu gehörte, dass er die Zahl der Wagen oder Schlitten hinausposaunte, um den Verkehr aus der Gegenrichtung auf das Kreuzen vorzubereiten. Diese Arbeit ging an die Substanz und so wurden die Postillione jeweils zusammen mit den Pferden ausgewechselt. Dies geschah pro Fahrt zwölf Mal an sogenannten Pferdepoststationen. Verantwortlich für den Pferdenachschub und genügend Postillione vor Ort waren die Pferdeposthalter in Andermatt und Airolo.

Die Tage der Gotthardpost sind gezählt

Die kürzeren Reisezeiten und das verdichtete Angebot – inzwischen verkehrten drei Doppelkurse täglich – lockten immer mehr Passagiere an. Vor dem Start der Fahrpost überquerten jährlich etwa 15 000 Personen den Pass. 1857 fuhren bereits 29 000 Fahrgäste mit der Post über den Gotthard. Im Rekordjahr 1875 waren es gar 72 000. Doch tief im Innern des Berges wurde zu dieser Zeit bereits am Ende der Gotthardpost gearbeitet. 1872 hatte der Ausbruch des Bahntunnels zwischen Göschenen und Airolo begonnen. Die bevorstehende Eröffnung des Tunnels liess die Passagierzahlen der Postkutschen deutlich fallen. 1881, dem letzten vollen Betriebsjahr, benutzten noch 58 496 Personen die Gotthardpost. Im Herbst 1881 fuhr die letzte Postkutsche über den Pass. Bis zur Eröffnung des Tunnels im Mai 1882 verkehrten noch die regulären Schlittenkolonnen über den verschneiten Alpenübergang, dann war Schluss.

Die letzte Postkutsche über den Gotthard wurde von Kondukteur Alois Zgraggen begleitet. Dem oft fälschlicherweise als «letzter Postillion» bezeichneten Zgraggen fiel noch die Ehre zu, den ersten Postsack durch den im Rohbau fertig gestellten Gotthardtunnel zu tragen. Im letzten Winter der Gotthardpost wurde der deutlich sicherere Weg durch den Tunnel schon vor dessen Eröffnung zur üblichen Route für Postsendungen zwischen Uri und dem Tessin. Die Passstrasse fiel nach dem Start des Bahnverkehrs durch den Berg in einen Dornröschenschlaf, aus dem sie erst mit dem Beginn des automobilen Zeitalters wieder geweckt wurde.